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Care - zwischen Betreuung, Pflege und Abgrenzung

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Der Begriff Care ist weit gefasst. Man verbindet damit Wörter wie Hilfe, Fürsorge, Beistand, Pflege, Unterstützung und Betreuung. So vielseitig die Bezeichnungen sind, so vielschichtig ist auch die Thematik. Welche Implikationen haben Care-Leistungen auf die Bevölkerung? Wie lassen sich unbezahlte Care-Leistungen in der Wirtschaft integrieren? Welche Herausforderungen warten auf Medizin und Geriatrie? Kann das menschliche Recht auf angemessene Pflege auch in Zukunft garantiert werden? Eine Psychologin, eine Ökonomin, ein Mediziner und eine Politikerin haben solche und weitere Fragen an der dritten Generationenveranstaltung vom Forum für Universität und Gesellschaft aufgegriffen.

Generationensolidarität statt Generationenkrieg

Der erste veröffentlichte Generationenbericht hat es gezeigt: Ein Generationenkrieg existiert in der Schweiz nicht, viel mehr funktioniert der Generationenvertrag in der Familie noch recht gut. «Aber wir müssen Sorge dazu tragen», mahnte Pasqualina Perrig-Chiello, die Leiterin des Generationenprojektes. Insbesondere die mittlere Generation hat mit einem hohen gesellschaftlichen und familialen Druck zu kämpfen. «Sie steht zwischen der Pflegebedürftigkeit der Eltern, den Ansprüchen der eigenen Familie und den beruflichen Anforderungen». Hinzu kommt, dass oftmals die betagten Eltern zu viel erwarten und die Hilfe zu wenig schätzen. Insbesondere Frauen sind vom Vereinbarkeitskonflikt zwischen Familie und Beruf betroffen. Ihnen wird mehrheitlich noch immer die Pflegetätigkeit von Angehörigen zugewiesen. Dementsprechend hoch ist bei Frauen auch das Bedürfnis nach einer Auszeit – die aber nur wenige realisieren können, weil jemand fehlt, der einspringt.

Zum Schluss wagte Perrig-Chiello einen Blick in die Zukunft: Das Dilemma, das sich aus der niedrigen Geburtenrate und der Langlebigkeit der Schweizer Bevölkerung ergibt, wird sich verschärfen. Dieser Wandel hat Implikationen auf zukünftige Trends. Die informelle Pflege wird sich zunehmend auf wenige Nachkommen verteilen, welche selbst wiederum vermehrt beruflich engagiert sind. Daraus folgt: Entlastungsangebote durch ausserfamiliäre und ambulante Hilfeleistungen müssen Lücken füllen. Nur so können Work und Care, individuelle Bedürfnisse und Ansprüche der Familie vereinbart werden und nur so hat der Generationenvertrag auch in Zukunft eine Chance.

Prisoners of Love

Heidi Stutz vom Büro für arbeits- und sozialpolitische Studien BASS Bern wirft einen ökonomischen Blick auf die Thematik. Sie sieht in den Care-Leistungen einen Wirtschaftsfaktor: «Care-Leistungen sind ein knappes Gut, denn die Nachfrage übersteigt das Angebot». In der Ökonomie entschärft der Markt das Knappheitsproblem über den Preis. Die unbezahlten Care-Leistungen hingegen entziehen sich diesem Regulator, da das Angebot gratis in Anspruch genommen werden kann. «Der monetäre Anreiz wird durch Nähe und Verantwortungsgefühl ersetzt», so Stutz. Die Angehörigen werden zu «Prisoners of Love» – gefangen im Pflichtgefühl, betagten Eltern zu helfen, wenn diese Unterstützung brauchen. Fakt ist, dass ein Viertel aller ab 50-Jährigen und ein Drittel aller 65-79-Jährigen unbezahlte Arbeit für Verwandte ausserhalb des eigenen Haushaltes leisten. Ein Grossteil davon macht die Alterspflege und Enkelkinderbetreuung aus. Care-Leistungen sind aber nur theoretisch kostenlos. Die Tatsache, dass Personen dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, bleibt hierbei unberücksichtigt. Wie also kann die Knappheitsproblematik entschärft werden, wenn nicht über den monetären Anreiz? Stutz sieht im Bewusstsein für den Wert der Care-Leistungen, professionell und unbezahlt, in flexibleren Angebotsstrukturen und schliesslich in der besseren finanziellen Absicherung des Care-Bedarfs Antworten auf diese schwierige Frage.

Die Bürde des Geriaters

Andreas Stuck übt einen Beruf aus, den niemand machen möchte: Er ist Geriater. Nur zwei der insgesamt 140 Studierenden, die dieses Jahr ihr Medizinstudium an der Universität Bern abgeschlossen haben, möchten sich auf Krankheiten von Betagten spezialisieren. Dies könnte verheerende Folgen haben, so Stuck: «Die Natur führt zu Veränderungen im Menschen, die es nicht immer gut mit ihm meinen». Altersbedingte Krankheiten wie Alzheimer, Osteoporose oder Herzkreislauferkrankungen müssen medizinisch behandelt werden. Dazu braucht es aber nicht nur Ärzte, sondern auch Geld. In der Schweiz herrscht das Prinzip der Solidarität: Jeder zahlt für jeden und jeder soll von allgemeinen Grundleistungen profitieren können. Und das sei auch gut so, meint Stuck, «denn niemand will Medizin freiwillig konsumieren». Eine Grundversicherung, welche die nötigen medizinischen Eingriffe am Individuum finanziert, ist in diesem Hinblick unumgänglich. Ebenso braucht es einen sinnvollen Einsatz der nichtfinanziellen Ressourcen. Dieser kann nach Stuck durch eine individuelle und altersgerechte Betreuung sichergestellt werden – denn geriatrische Behandlungen fördern die Lebensqualität und senken Kosten.

Das Recht auf Care

Der Anspruch auf eine angemessen Pflege ist in der Bundesverfassung verankert. Dieses Recht wurde früher vor allem durch die Kinder gewährleistet, heute übernehmen die AHV, die Pensionskassen und die solidarischen Krankenversicherungen wenigstens den finanziellen Teil dieser Aufgaben. Die Pflegekosten – die Nachfrage nach Demenz- und palliativen Leistungen nimmt im Alter zu – steigen in der zweiten Lebenshälfte und infolge des demographischen Wandels rasant an. Ein Heimplatz der höchsten und zweithöchsten Pflegestufe kostet im Monat CHF 8’000.- und muss von mehr als der Hälfte der Heimbewohner durch Zusatzleistungen finanziert werden. Ständerätin Christine Egerszegi-Obrist fordert deshalb, dass ambulante Betreuung und Pflege gefördert wird, dass das notwendige Personal zur Verfügung steht und dass die Situation der pflegenden Angehörigen verbessert wird. Auch die Politik muss ihren Beitrag leisten. Sowohl in der Gesundheitspolitik als auch in der Familienpolitik besteht ein dringender Handlungsbedarf. Ansätze sind eine altersspezifische Gesundheitsförderung und eine verstärkte Prävention. In der Familienpolitik müssen flexiblere Arbeitsplatzgestaltung, bessere Kinderzulagen und familienexterne Betreuungsstrukturen thematisiert werden. Lösungsansätze sind aber nicht nur in der Politik, sondern auch bei jedem Einzelnen zu suchen, ist sich Egerszegi-Obrist sicher und schliesst ihren Vortrag mit den Worten: «Auch in Zeiten, in denen die Gesundheit vorwiegend über die Kosten definiert wird, haben wir nicht nur die gesetzliche, sondern auch die menschliche Pflicht, für ein würdiges Leben im Alter zu sorgen».

Die Generationensolidarität soll unbedingt aufrecht erhalten werden, darüber herrschte an der Forumsveranstaltung Konsens. Insbesondere jene, die unbezahlte Care-Leistungen erbringen, brauchen Unterstützung und müssen entlastet werden. Denn ihr Beitrag wird im Hinblick auf den demographischen Wandel immer bedeutsamer, die Anforderungen und Belastungen steigen rasant. Erste Lösungsansätze zu dieser sich verschärfenden Problematik haben die Referierenden  erläutert – weitere muss die Zukunft bringen.

 

Gastbeitrag von Anina Lauber und Maja Hornik, Forum für Universität und Gesellschaft, Universität Bern

2 Kommentare

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    Die heutige 3. Generation ist meistens noch gut erhalten, leistungsfähig und frei vom Druck der Berufstätigkeit und der Sorge für die Familie. Eventuell kann die 3. Generation sich so etwas wie “Erziehungsgutschriften” (Betreuungsgutschriften) verdienen, indem sie für die 4. Generation sorgt? Die Kosten für einen Pflegeplatz im Alter werden je länger je mehr zu einem Problem. Indem sich eine Person der 3. für jemand der 4. Generation einsetzt, kann sie Bonuspunkte ansparen für die Zeit, da sie selber 4. Generation oder/und pflegebedürftig wird. Idee ??

    Hanni Wismer

    Genau solche Projekte gibt es: Das Generationenprojekt “KISS” und auch die Zeitvorsorge St. Gallen greifen genau diese Idee auf. Beide Projekte finden Sie in der Projektesammlung auf der Generationenplattfom.

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