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Ein alternativer Report vom Demographen-Kongress

An der Universität Genf lud AIDELF vom 21. bis zum 24. Juni 2010 zum 16. Jahreskongress ein. Zum Thema standen die Beziehungen zwischen den Generationen aus Sicht der französischsprachigen Demografen. Zu dieser Problematik wurden in vier Tagen insgesamt 90 Beiträge in 20 Parallel- und 4 Plenarsitzungen vorgestellt. Die intergenerationellen Beziehungen wurden nach 3 thematischen Gruppen behandelt:

  • Formen der Familiensolidarität
  • Migration
  • Vermittlung von Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, Gesundheit, Finanzielles

Die meisten Beiträge beschäftigten sich auch mit dem Gender-Aspekt und haben bestätigt, dass die Ungleichheit zwischen Mann und Frau sich immer noch in vielen Bereichen niederschlägt. Fragen wie Zeit und Zeitmanagement sowie auch Quantifizierung von Zeit in Form von Arbeitsstunden wurden in mehreren Vorträgen aufgegriffen.

Die Auswirkungen der Globalisierung auf den Arbeitsmarkt wurden mit dem Migrationsphänomen in Beziehung gesetzt. Die Vielzahl vertretener Länder ermöglichte einen hoch interessanten Austausch und eröffnete völlig neue Einblicke und Vergleichsmöglichkeiten.

Formen der Familiensolidarität

Gestützt auf vergleichende Untersuchungen zeigte Anne Solaz in ihrem Beitrag «Deux générations à la maison: le coût des jeunes adultes vivant chez leurs parents en France et en Italie» (Zwei Generationen in einem Haushalt: Was kosten junge Erwachsene, die bei ihren Eltern leben? Beispiele: Frankreich und Italien.), dass das Verlassen des elterlichen Haushalts für junge Leute mit einer bedeutenden Zunahme der Hausarbeit einhergeht, bei den Männern noch mehr als bei den Frauen.

Tatsächlich beteiligen sich Letztere bereits an der Hausarbeit, bevor sie bei den Eltern ausziehen. Aus der Untersuchung geht hervor, dass Frauen grundsätzlich mehr Zeit für die Hausarbeit aufbringen als Männer. Die vergleichende Studie bestätigt zudem eine Eigenheit der italienischen Familien, wo Mütter zusätzlich Zeit in die Betreuung des Haushalts investieren, wenn das Kind männlichen Geschlechts ist. Diese Zusatzstunden, die (italienische) Mütter leisten, führen zu einem besonderen «Komfort», der vor allem Männern zugutekommt.

Olivia Ekert-Jaffe hat sich mit der Frage beschäftigt, was Kinderbetreuung zeitmässig kostet, und dabei den Einelternfamilien besonderes Augenmerk geschenkt. Ausgehend von der Feststellung, dass ein Kind zusätzliche Arbeit zu Hause mit sich bringt und/oder dass ein Teil der Berufsarbeit für die Bezahlung der Kinderbetreuung aufgewendet werden muss, konnte Ekert-Jaffe aufzeigen, dass die zeitliche Belastung bei allein erziehenden Müttern etwas weniger gross ist: Sind solche Mütter voll erwerbstätig und leben mit einem Kind unter 15 Jahren zusammen, so verfügen sie im Tagesdurchschnitt über etwas mehr Zeit für sich selbst als Mütter, in deren Haushalt auch noch ein Partner lebt.

In ihrem Beitrag «Partage des tâches parentales en France: le statu quo» (Aufgabenteilung bei französischen Eltern: eine Bestandesaufnahme) zeigten Pascal Sebille und Carole Brugeilles, dass Väter sich heute erzieherisch mehr einbringen und einen grösseren Beitrag an die Kinderbetreuung leisten als früher, auch wenn eine völlige Gleichstellung nur im Bereich der «Freizeitaktivitäten» erreicht wird.

Hilfe bei den Schularbeiten und Begleitung sind Aufgaben, die nach wie vor mehrheitlich von den Müttern übernommen werden. Beim Ankleiden und beim Zubettbringen – Aufgaben, die als typisch «weiblich» gelten – findet ein Wechsel statt, wenn das Kind ein gewisses Alter erreicht hat. Von diesen Aufgaben werden die Eltern völlig entlastet, wenn das Kind selbst oder das älteste Kind der Familie sie übernehmen kann.

Ausgehend von der Tatsache, dass Ehen und Partnerschaften immer unstabiler werden und dass jüngeren Forschungen zufolge Patchworkfamilien immer häufiger werden, hat Philippe Cordazzo sich für das Engagement von «Stiefvätern» interessiert und festgestellt, dass es sich von demjenigen biologischer Väter nicht wesentlich unterscheidet. Immerhin hat er eine neue Aufgabenteilung ausgemacht, die als eher zufriedenstellend empfunden wird: Die in Patchworkfamilien lebenden Männer bezeichnen die Aufgabenteilung als besser und weniger konfliktbelastet.

Für Cornelia Hummel entstehen nach einer Scheidung der Eltern keine wesentlichen Unterschiede bezüglich der Beziehungen zwischen Grosskindern und Grosseltern. Diese Beziehungen sind grundsätzlich eher matrilinear geprägt, was bedeutet, dass die Grosseltern mütterlicherseits systematisch bevorzugt werden und die Familie des Vaters weniger präsent ist.

Migration

Christelle Hamel hat eine Feinanalyse der Faktoren vorgenommen, die Generationenkonflikte bei Migrantenfamilien, die sich in Frankreich niedergelassen haben, hervorrufen. Aus Genderperspektive ist ersichtlich, dass Töchter öfter in Konflikte mit ihren Eltern geraten als ihre Brüder, die sich an eine Art «diplomatisches Schweigen» halten, das übrigens für beide Seiten gilt (Kind und Eltern) und darin besteht, dass gewisse Themen ausgeblendet werden.

Aus einem Vergleich der Verhältnisse bei Migrantenfamilien unterschiedlicher Herkunft einerseits und bei der (französischen) Mehrheitspopulation andererseits geht hervor, dass es in Immigrantenfamilien nicht mehr Konflikte zwischen den Generationen gibt.

In seiner Präsentation «Familles africaines en France: parcours, liens et transformation identitaire» (Afrikanische Familien in Frankreich) hat Rémi Galloumontre auf die zentrale Rolle der afrikanischen Mütter in Frankreich hingewiesen. Einerseits sind sie die wichtigste Stütze der Kinder, was auch für deren Integration entscheidend ist (Schulbildung, Anreize für ein gutes Ausbildungsniveau und einen guten Arbeitsplatz sind deshalb von Bedeutung), andererseits obliegt den Müttern die Vermittlung von Geschichte und Sprache des Herkunftslandes.

In nach Frankreich immigrierten Familien übernehmen die Frauen somit Vermittlungsaufgaben für zwei Wertesysteme und knüpfen Beziehungen zwischen ihrem Herkunftsland, das den Kindern oftmals fremd ist, und dem Land, in dem sie leben.

Vermittlung von Wertvorstellungen, Verhaltensweisen, Gesundheit, Finanzielles

Marie Lesclingand beschäftigt sich mit der Frage der Genitalverstümmelung in Migrantenfamilien. In ihrer Präsentation «Transmission intergénérationnelle d’une pratique néfaste: mesure d’abandon de l’excision en contexte migratoire à travers trois générations de femmes» ging es ihr darum aufzuzeigen, dass bei einer Praktik, die von der Grossmutter noch bejaht wurde, die Tatsache, dass sie von der mittleren Generation nicht vollzogen wird, entscheidend dazu beiträgt, dass sie ab der dritten Generation völlig verschwindet.

Das Aufgeben der Beschneidung wird sicherlich vom Migrationsumfeld begünstigt – sowie auch von der neuen Auffassung der Genitalverstümmelung als ein Verbrechen. Ihren «Wert» und ihren Vollzugsgehalt verliert die Beschneidung aber dann, wenn die Frauen einer Generation sie bei der folgenden Generation nicht mehr praktizieren.

Der Beitrag von Barthélémy Kalambayi Banza zur sexuellen Aufklärung in Kinshasa gibt Auskunft über sozio-ökonomische Veränderungen in der Stadt, welche die Grosseltern immer mehr von den Familien entfernen und so die Familienstruktur aufbrechen.

Die Trennung von den Grosseltern, deren Aufgabe es ursprünglich war, ihre Enkel in einer fiktiven Beziehungskonfiguration nach dem Muster Grossmutter/Enkelknabe und Grossvater/Enkelmädchen sexuell zu unterweisen, impliziert eine Erziehungslücke, die durch die Eltern nicht geschlossen wird. Barthélémy Kalambayi Banza unterstreicht die Risiken, die mit diesem kulturellen Verlust und mit der von der Fragmentierung der Familien ausgelösten Identitätsbedrohung einhergehen.

 

Michela Villani
mvillani@eesp.ch
Haute école de travail social et de la santé · EESP
Ch. des Abeilles 14
1010 Lausanne

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